Nackt by Jean-Philippe Toussaint

Nackt by Jean-Philippe Toussaint

Autor:Jean-Philippe Toussaint
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
Herausgeber: Frankfurter Verlagsanstalt
veröffentlicht: 2014-06-17T22:00:00+00:00


Marie kümmerte sich um alle Formalitäten unserer Reise nach Elba. Am übernächsten Tag holte sie mich mit dem Taxi ab. Um halb sechs Uhr morgens hielt das Taxi unten vor dem Haus in der Rue des Filles-Saint-Thomas (Marie hatte den ersten Flug nach Pisa gebucht, den um 6.55 Uhr). In Paris war es kalt und regnerisch, und wir saßen schweigend im Taxi. Marie trug einen Übergangsmantel aus heller creme- oder elfenbeinfarbener Wolle, den ich an ihr noch nie gesehen hatte. Im Halbdunkel des Taxis döste sie mit verschränkten Armen und in ihren Mantel gewickelt. Von Zeit zu Zeit gähnte sie und kniff die Augen zu, öffnete dann eines zur Hälfte und lächelte mich an, mit schweren Lidern, bereit, sie gleich wieder zu schließen. Im Flughafen Roissy, der trotz der frühen Morgenstunde schon recht belebt war, tranken wir am Tresen eines Expressrestaurants auf die Schnelle einen Kaffee aus Pappbechern, nachdem wir zuvor den Koffer von Marie eingecheckt hatten (nur ein einziger Koffer – welche Heldentat –, aber extrem voluminös und auf das Raffinierteste ausgestattet mit Fächern und Seitentaschen, Unterteilungen und zusätzlichen Täschchen, wie diese immer zum Bersten gefüllten Backpacker-Rucksäcke, an denen dann noch ein Eispickel oder eine Pfanne hängt.) Dann, nachdem wir die Sicherheitskontrolle passiert hatten, folgten wir einem verglasten Korridor, von dem aus wir auf die düsteren Pisten von Roissy blickten, bis wir das Flugzeug erreicht hatten.

Bei unserer Landung in Pisa war es noch dunkel, durch die Bordfenster sahen wir die Lichter des Flughafens. Wie in Zeitlupe rollte das Flugzeug über die Pisten des Galileo-Galilei-Airports zu seinem Platz auf dem Vorfeld. Es war 8.35 Uhr Ortszeit, und die Außentemperatur betrug 8 Grad Celsius. Wir hielten uns nicht lange am Flughafen auf, warteten nur auf Maries Koffer und fuhren dann weiter zum Bahnhof. Nachdem wir die große Anzeigetafel mit den Abfahrtszeiten der Züge studiert hatten, kauften wir zwei Tickets nach Piombino und stiegen in einen abfahrbereiten Zug, der sich fast unverzüglich in Bewegung setzte. Über der Toskana brach ein regnerischer Tag an. In einiger Entfernung war das Meer zu sehen, es war ein unheildrohendes Meer, grau und übersät mit kleinen weißen Gischtkronen, die draußen vor der Küste wie lebendige, zittrige Narben aufschäumten. Eine nasskalte und traurige Landschaft zog an unserem Fenster vorbei, Bahnhöfe in verblasstem Ocker, zwischen verregneten Feldern hier und da ein Haus auf dem Gipfel eines Hügels, Pinien in Reihen, die sich aus dem Nebel herausstanzten. Der Herbst schien das Blätterwerk der Bäume noch verschont zu haben, sie standen immer noch in vollem Grün, ohne irgendeinen Schimmer von Gelb oder Rot, diesen Goldtönungen, die man im Norden Europas findet. Im Zug dösten wir nebeneinander vor uns hin, fühlten uns, als hätten wir es mit einer leichten Zeitverschiebung zu tun, nur weil wir so früh hatten aufstehen müssen. Kurz bevor wir Piombino erreichten und der Zug vor der Einfahrt in den Bahnhof sein Tempo verlangsamte, durchfuhren wir ein durch Absperrgitter gesichertes Gelände der stahlverarbeitenden Industrie, wo hohe Industrieschornsteine Rauch in den Himmel stießen vor dem Hintergrund eines düsteren und grauen Mittelmeers.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.